Ein Beitrag von Reinhard Hohmann /
Das Folgende ist ein Plädoyer für die sanfteste Form der Mobilität, zugleich vermutlich die älteste. Ein biblischer Mythos erzählt, Gott selbst sei ‚im Tagwind` im Paradies spazieren gegangen (Gen 3,8). Für die den verbotenen Apfel pflückenden Menschen hatte seine Aktivität allerdings verheerende Folgen.
Anders als das Wandern braucht es, um zu spazieren, keine Planung, keine Ausrüstung, kein Training, keine Wetterapp, keine Wanderkarten, keinen Rucksack, kein spezielles Schuhwerk. Auch verfolgt der Spaziergänger keine höheren Ziele. Er trägt deshalb keinen Schrittzähler, kein Kalorienverbrauchs-messgerät, keinen Pulsmesser bei sich.
Staunen, Stehenbleiben, nochmal zurückgehen
Dagegen hat der Spaziergang viel zu tun mit der Lebenskultur der Stadt (und des Dorfes), und er ist eng verbunden mit dem Nach-dem-Rechten-Sehen. Man geht oft die gleichen Wege, und man entdeckt hier einen Leerstand, dort eine Abrissbirne in Aktion und da eine eben bezugsfertige Stadtvilla, die gerade von jungen, gut betuchten Leuten besiedelt wird. Im Kern erlebt man den Wandel der Stadt. Das Originelle verschwindet, die neue Architektur repräsentiert einen neuen Lebensstil, der allerdings Züge der Uniformität trägt. Den Einwand, das alles ließe sich auch mit dem Fahrrad oder dem Auto erfahren, lasse ich nicht gelten. Spazierengehen ist naturgemäß mit dem Staunen, dem Stehenbleiben, dem Noch-mal-zurück-Gehen und Nachschauen verbunden. Es macht ernst mit der Entdeckung der Langsamkeit, über die Sten Nadolny geschrieben hat: Die Reduktion der Bewegung auf ein Minimum ermöglicht ein Maximum an Erleben, vielleicht sogar – wie im Falle seines Romanhelden – ein Maximum an Erkenntnis. Das widerspricht der gängigen Überzeugung, je mehr man sich umschaue in der Welt, desto mehr habe man erlebt.
Nur zu Fuß - Mobilität ohne Bus, Zug, Straßenbahn
Nicht jeder hat für die betonte Langsamkeit Verständnis. Wenn ich am Leinpfad des Dortmund-Ems-Kanals laufe (ich wohne nicht so weit weg von der Nordsee), trete ich in Konkurrenz mit Radlern, Joggern und Walkern, die alle ein definiertes Ziel erreichen wollen und es eilig haben. Ihnen bin ich im Wege. Noch mehr im Wege sind ihnen meine kleinen Enkel, wenn sie die Blesshühner verfolgen oder unvermittelt stehen bleiben, um eine Pusteblume zu pusten. Es sind im Streit ums Wegerecht schon böse Worte gefallen.
Mein Vorbild ist mein längst toter Großvater. Er kam 1912 zu Fuß von der Rhön an die Ruhr, wurde in Iserlohn heimisch und hat die Stadt nur noch verlassen, um in Flandern, an der Somme und am Chemin-des-Dames für den Kaiser zu kämpfen. Als er glücklich zurück war: Nur noch zu Fuß und nur in der Stadt! Kein Bus, kein Zug, keine Straßenbahn. Er weigerte sich, ins Auto seines Sohnes zu steigen. Er lief als beinahe Achtzigjähriger täglich sechs Kilometer, am Morgen zur Kirche, am Mittag zu Essen bei seiner Tochter, am Nachmittag ans Grab seiner Frau. Er kannte die Stadt in- und auswändig, mehr noch: er verstand sie. Er ahnte Veränderungen, ohne die Zeitung zu lesen. Er schnappte etwas auf, traf Leute, plauderte und ging – wie man so sagt – mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt. Auch das gehört zur Phänomenologie des Spaziergangs.
Die ganze Stadt ein Platz zum Spielen
Möglicherweise kommen diese Impressionen dem Leser zu individuell, zu wenig politisch vor. Dieser Eindruck täuscht. Während ich gehe, entsteht vor meinem inneren Auge das Bild einer anderen Form von Urbanität, allerdings keiner neuen, sondern einer sehr alten: Das Bild einer Stadt (und eines Dorfes) dimensioniert und gestaltet nach den Bedürfnissen des Flaneurs, und das nicht nur in den Sonderregionen der Volksparks, der Naherholungsgebiete und Fußgängerzonen. Meine Vision geht dahin, dass unseren Kindern nicht ständig ‚Pass auf’ nachgerufen werden muss, sondern dass sie – die geborenen Fußgänger – sich frei bewegen oder mitten auf der Straße stehen bleiben können. Gleiches sollte für die Benutzer von Rollatoren und Rollstühlen gelten. Ich wünsche mir keine Spielplätze in der Stadt, sondern dass die ganze Stadt ein Platz zum Spielen ist, zum Spazierengehen und Herumsitzen. Meine Frau versichert mir, dass es in ihrem Hochwalddorf vor 60 Jahren noch genau so war.
Natürlich ist mir völlig schleierhaft, wie diese Vision mit den Erfordernissen moderner motorisierter Mobilität in Einklang zu bringen wäre. Worin denn zum Schluss nach so viel Lob des Spaziergangs auch ein Tadel mitschwingt: Beim Gehen fängt man an zu träumen, und die Wirklichkeit bleibt auf der Strecke.